Jessies Melodie by Paula Fox

Autor:Paula Fox [Fox, Paula]
Die sprache: deu
Format: epub, azw3, mobi
Tags: Jugendroman
Herausgeber: Boje Verlag
veröffentlicht: 2013-04-10T22:00:00+00:00

DER SPANIER

»Hast du dir je ’nen Hahnenkampf angesehen, Jessie? Nicht zu glauben, wie viel Leben in so ’nem Federvieh steckt, bis du mal eins mit Mordlust im Blick vor dir siehst. Die bewegen sich dermaßen schnell, dass man ’nen Schnabeltreffer bloß daran erkennt, wo das Blut spritzt! Ist der herrlichste Anblick überhaupt! Irgendwann werd ich mir auch ’n paar Kampfhähne zulegen. Hab sogar schon ausgetüftelt, wie man’s für die Zuschauer besser macht. Es gibt nämlich immer ’n paar, denen die Köpfe der andern die Sicht auf die Grube versperren. Aber ich hab mir da was überlegt ...«

»Cooley, jetzt hör schon auf mit deinen Vögeln!«, ging Sam Wick dazwischen. »Sind doch bloß Barbaren, die an so ’nem Spektakel was finden. In Massachusetts haben wir’s längst abgeschafft. Und was deine tollen Pläne angeht, kannst du froh sein, wenn du am Ende deiner Tage ’n Dach überm Kopf hast, wo’s nicht durchregnet.«

»In Massachusetts ist inzwischen ja so gut wie alles abgeschafft«, gab Cooley zurück, allerdings nicht sehr streitlustig. Die beiden Matrosen verstummten. Gemeinsam starrten sie auf den Horizont, der sich im Rhythmus des rollenden Schiffs zu heben und zu senken schien. Ich schaute auf ihre Augen, deren Blick so weit und so leer war wie das Meer, wenn von einer Sekunde zur nächsten die letzten Farben der untergehenden Sonne verblassen und die Dunkelheit beginnt. Mit dem gleichen Blick hatten sie miterlebt – falls man das so nennen kann –, wie man an jenem Morgen Ned Grimes Leichnam über Bord warf und wie später acht Tote unter den Schwarzen gefunden wurden; fünf Männer, eine Frau und zwei Kinder, die Ned in die Wellen folgten. Nun gab es niemanden mehr, der uns sagen konnte, woran einer gestorben war.

Dass Sam Wick aus Massachusetts stammte, dem Geburtsort meiner Mutter, nahm ich nur beiläufig zur Kenntnis. Schließlich stammten alle von irgendwoher. Es war mir vollkommen gleich. Es scherte mich nicht, ob die Männer in New York oder Rhode Island oder Georgia Frauen und Kinder hatten, oder Eltern, Brüder und Schwestern. Die Moonlight war für uns ein Gefängnis, so wie das Meer für das Schiff ein Gefängnis war. Alles war aus den Fugen.

Die Sklaven waren dem Tod näher als die Besatzung, obwohl ihr Essen nicht viel schlechter war als das, was wir aßen. Unter uns gab es niemanden mehr – abgesehen vom Kapitän und dem inzwischen zum Maat aufgestiegenen Stout –, der nicht ständig Durst litt, es sei denn, es regnete. Doch wir konnten immerhin an Deck umherstreifen. Ich fragte mich, ob es unter diesen Umständen nicht genau das war, was den Unterschied zwischen Leben und Tod ausmachte. Und auch wenn Ben Stout uns mit seinen spitzfindigen Befehlen das Leben an Bord weitaus schwerer als nötig machte, so gab es doch eine Grenze. Es gab Untersuchungsgerichte, vor denen der Kapitän sich bei besonderer Grausamkeit gegen die Crew würde verantworten müssen – falls einer der Matrosen genug Durchhaltevermögen besaß, ihn zu verklagen. Falls überhaupt je einer von uns noch einmal die Küste sah ...

Bis auf einen sintflutartigen Platzregen verlief unsere Fahrt mit Kurs Nordwest ohne Zwischenfälle.

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